Die Bachwochen Thun glänzen als beliebtes Musikfestival der Schweiz mit innovativen Konzertformaten und smarten Kooperationsformen. Epic Lab hatte die Gelegenheit, mit dem Festival-Intendanten Vital Julian Frey ein Gespräch über die Vermarktungsstrategie des neuartigen Konzertformats „Digital concert“ zu führen, für dessen Videoproduktion wir verantwortlich zeichneten.
Vital Julian Frey, wie kam es zur Idee des „Digital concerts“ bei den Bachwochen Thun?
Hintergrund ist, das wir als relativ kleiner Veranstalter dazu verpflichtet sind, für neue Projekte Zusammenarbeiten mit Partnern einzugehen, immer unter dem Aspekt, dass eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten entsteht. Dies ist ein zentrales Element der Profilumstellung, die ich in den letzten Jahren als Intendant der Bachwochen Thun vorgenommen habe. Ich habe mich also mit Barbara Balba Weber in Verbindung gesetzt, welche an der Hochschule der Künste Bern (HKB) zuständig ist für den Lehrgang „Music in Context“, um unter ihren Studenten neue Projektideen für unser Musikfestival auszuschreiben, quasi als Experimentierwiese für Musikvermittlung. Alle Studenten haben im Rahmen Ihrer Ausbildung ein Projekt vorgeschlagen. Wir haben dann zwei Projekte gewählt und in die Realität umgesetzt. Das eine nennt sich „Hofkonzerte“, welches von nun an ein fester Bestandteil der Bachwochen Thun sein wird, das andere ist das Projekt „Phone concert“, welches wir letztes Jahr als Pilotprojekt und digitales Live-Konzert durchgeführt haben. Dieses bieten wir in diesem Jahr nun in weiterentwickelter Form und als Nachfolgeprodukt unter der Bezeichnung „Digital concert“ an.
Während das „Phone concert“ eine Hybridveranstaltung war (Konzert mit Live- Streamingzusatz), ist das Digital concert ein vorproduziertes Konzert, welches exklusiv für den Vertrieb über Internet ausgelegt ist. Was waren die Beweggründe hierfür?
Es ergeben sich verschiedene Vorteile daraus. Einerseits konkurrenzieren wir die Live-Veranstaltung nicht und riskieren, dass der Konzertsaal leer bleibt, weil die Mehrheit des Publikums online konsumiert. Ein weiterer Vorteil ist die zeitliche und örtliche Entkoppelung der Konzertproduktion vom Festivalzeitraum. Dies führt zu einer organisatorischen Entlastung für die Bachwochen Thun und zu einer einfacheren Koordination aller Beteiligten, sowohl im künstlerischen als auch technischen Bereich. Ein weiterer Vorteil ist, dass wir nun einen Vorfilm präsentieren können, welcher einen Einblick hinter die Kulissen der Entstehung des Digital concerts gewährt.
Was sind die besonderen Herausforderungen bei der Vermarktung eines Konzerts im digitalen Format?
Einerseits die Wahl der Ticketing-Plattform. Unser Digitalkonzert ist kostenpflichtig, aber der Preis liegt deutlich unter einem normalen Konzerteintritt. Wir haben uns entschieden, über das Portal „Kulturticket“ und das Reservix-System in den Markt zu gehen. Wir wissen aber nicht, ob es uns gelingen wird, darüber genügend Karten zu verkaufen. Wie bei allen innovativen Pilotprojekten gehen wir das Risiko ein, dass unser Digitalkonzert am Markt nicht funktioniert.
Andererseits sehen wir uns immer wieder der Frage gegenübergestellt, ob das Live-Konzerterlebnis nicht besser ist. Und es ist eine berechtigte Frage. Ich bin ebenfalls überzeugt, dass die digitale Erfahrung das reale Erlebnis nicht ersetzten kann. Beim realen Erlebnis sind mehr Sinne involviert (z.B. der Geruchssinn, der zur Wahrnehmung der Atmosphäre in einer alten geschichtsträchtigen Kirche beiträgt), eine gewisse Uneingeschränktheit des eigenen Verhaltens, der Bewegung rund um das Konzert. Man ist nicht unbedingt freier in gewissen Dingen, die die digitale Erfahrung ermöglicht, aber die reale Erfahrung ist und bleibt anders. Der Vorteil des digitalen Formats ist, dass es die Grenzen öffnet, von wo aus man das Konzert geniessen kann. Fragen der Mobilität und der Publikums-Logistik sind für den Veranstalter gelöst. Auch die Abendkasse kann komplett automatisiert werden. Und man hat die Möglichkeit, einem wichtigen Bedürfnis der heutigen Gesellschaft entgegenkommen, nämlich dem selbstbestimmten Zeitpunkt der Konsumation. In den zwei Wochen, in welcher das Konzert verfügbar ist, kann ich es mir anschauen und anhören, wann immer der ideale Zeitpunkt für mich ist.
Welche Auswirkungen hat die zeitliche Beschränktheit des Angebots auf das Marketing?
Die grosse Herausforderung besteht darin, an die Leute heranzukommen, die nicht zu unserem Stammpublikum gehören, aber potenziell am Digital concert interessiert sind. Das eine Publikum ist „analog“, das andere, digitale Publikum, ist schwierig zu erreichen, weil wir keinen Draht zu ihm haben, und weil es – salopp gesagt – (noch) nicht an den Bachwochen Thun selbst interessiert ist. Unser ideale Konsument für das Digitalkonzert ist jemand, der kulturell offen ist und im Digitalen zuhause. Wie erreichen wir diese Leute? Dies ist die eine Herausforderung. Eine andere Herausforderung ist die Kurzfristigkeit der Marketingkampagne, d.h. wir promoten das Konzertangebot erst dann intensiv, wenn es schon läuft. Wir versuchen, über Social media einen Schneeballeffekt loszutreten und unser Werbematerial im Köcher bereit zu haben, es aber erst loszulassen, wenn das Angebot freigeschaltet ist.
Die Idee dahinter ist also, den Aktualitätscharakter zu bewahren und die Aufmerksamkeitsspanne des Konsumenten nicht zu früh zu erschöpfen?
Ja genau. Ich glaube nicht, dass jemand anbeisst, der auf das Konzertangebot interessiert reagiert, dann aber realisiert, dass es erst in zwei Wochen verfügbar ist. Einem solchen Benutzer unterstelle ich, dass er es dann letzten Endes doch nicht schaut. Nicht, weil er es nicht möchte, sondern weil er es schon vergessen hat und von genügend anderen Angeboten vereinnahmt ist. Daher wollen wir marketingtechnisch einen Trigger setzten, der sagt: „Jetzt kannst Du“.
Also eine „Instant gratification“ Strategie.
Ja. Das heisst nicht, dass wir nicht schon jetzt öffentlich über das Konzert sprechen können. Aber ausschlaggebend dafür, ob das Konzert geschaut wird, ist der letzte Hinweis, zu dessen Zeitpunkt das Konzert bereits da und sofort verfügbar ist.
Nebst innovativer Konzertformate bieten die Bachwochen Thun erstmalig auch ein neues Kooperationsmodell für Ensembles wie dem Schweizer Jugendchor an. Was hat es damit auf sich?
Kleinere und mittlere Ensembles sind aus finanziellen Gründen oft darauf angewiesen, ein Konzertprogramm mehrere Male zu verkaufen, da die Kosten für die Einstudierung eines Werks (z.B. mit Orchester) den Löwenanteil ausmachen und nicht über Einnahmen aus einem einzigen Konzert gedeckt werden können. Mit unserem Kooperationsmodell bieten wir dem Schweizer Jugendchor an, die gesamten Kosten der Einstudierung zu übernehmen und (beim Digital Concert) einen Teil der Einnahmen mit dem Ensemble zu teilen. Im Gegenzug dafür bezahlen wir keine feste Konzertgage. Der Chor hat aber den Vorteil, dass er Folgekonzerte zu einem viel attraktiveren Preis an andere Veranstalter verkaufen kann, da die Kosten der Werkeinstudierung bereits gedeckt sind.
Vital Julian Frey, besten Dank für das Gespräch.
Mehr Informationen:
Das Digital Concert 2022 läuft vom 4.-14. September 2022. Tickets sind über die Website www.bachwochen.ch erhältlich.
Kontakt für Ensembles:
Bachwochen Thun
Geschäftsstelle
CH-3600 Thun
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+41 77 444 39 29