Marcel Barsotti ist einer der erfolgreichsten deutschen Filmkomponisten. Er hat die Musik zu über hundert Kino-, Fernsehfilmen und Werbespots geschrieben (u.a. Die Päpstin, Deutschland. Ein Sommermärchen, Jesus liebt mich), und 40 Musikalben veröffentlicht. Für seine Musik wurde er vielfach nominiert und mit renommierten Preisen ausgezeichnet. Er ist Inhaber des 2017 gegründeten Production Music Unternehmens tunesformovies und lebt und arbeitet am Starnberger See bei München. Epic Lab hatte die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen.

Marcel Barsotti, Sie wurden erst gerade im Februar für den BEST SHORT FILM SCORE (Beste Filmmusik) und in der Kategorie BEST COMBINED USE OF SOUND AND MUSIC für den Film „Klabautermann“ von Anke Sevenich auf dem internationalen Short Sounds Film Festival in Großbritannien zweifach nominiert. Herzlichen Glückwunsch! Wie wichtig ist Ihnen eine solche Nominierung?

Herzlichen Dank. Das kam völlig überraschend, denn ich kannte den Festival Award zunächst nicht. Und wenn man dann aus England eine E-Mail Gratulation erhält freut man sich natürlich riesig. Wichtig sind mir allerdings die Filmmusiken zu den Filmen zu machen und deshalb freue ich mich für die Nominierungen besonders, denn ich wurde für eine moderne, avantgardistische und recht unbequeme Filmmusik nominiert. Und der Score zu „Klabautermann“ ist komplett elektronisch, was gerade sehr gut zu meinen Alben-Konzepten passt.

Ihr neustes digitales Soloalbum „Earth“ schlägt mit über 100’000 Streams innerhalb weniger Wochen alle Ihre vergangenen Streaming-Rekorde. Wie erklären Sie sich den Erfolg?

Jeder neue Soundtrack ist ein Pokerspiel. Ist der Film erfolgreich oder das Konzept des Soloalbums stimmig? „Earth“ ist ein von mir langersehntes Album, welches die rein elektronische Musik bedient. Es klingt nach Filmmusik, das war mir wichtig und ist ein elegisch und minimalistisch, reduzierter Klang. Der neue Trend: Soundscapes. Ich denke, dass mein erstes elektronische Album „Transpicuous“ hier den Weg für „Earth“ frei und die Musikfans damit neugierig gemacht hat, deshalb glaube ich auch der Erfolg des Albums damit verbunden ist. Ich bin sehr froh darüber und die Duologie wird auch fortgesetzt.

Ist der Erfolg auch einer guten Geschäftsstrategie geschuldet? Im Jahr 2017 gründeten Sie Ihr eigenes digitales Label tunesformovies. Ein cleverer Schachzug. Ist die Zeit der physischen Musikalben definitiv vorbei?

Die Zeit der physischen Musikalben ist definitiv vorbei. Natürlich gibt es noch eine kleine Fangemeinde, aber in erster Linie geht es um bestehende und ältere Soundtracks. Keiner möchte mehr nach Hause, den CD-Player anschließen und eine CD hören, das Handy ist der heutige CD-Player. Vor kurzem hatte ich einen Soundtrack von mir verschenkt, die junge Frau wusste noch nicht einmal, dass es CD-Player gibt und hatte sich dann die Musik auf Spotify angehört, natürlich kostenlos. Wahrscheinlich ist die CD im Müll gelandet.

Mit den digitalen Releases hat man heute ganz neue Möglichkeiten ein Album erfolgreich zu vermarkten. Deshalb habe ich auch ein eigenes Label gegründet. Dadurch habe ich die 100% Kontrolle, das Album genau so zu vermarkten, wie ich es für richtig halte. Zudem fließen 100% meinem Label zu und die Einnahmen kann man für nächste Projekte gut einsetzten. Also eigentlich nur eine WinWin Situation.

Die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums hat sich in den vergangenen 20 Jahren ständig verringert. Liedermacher lassen mittlerweile das Intro weg, die statistisch erfolgreichste Songlänge am Radio hat sich auf 2 Min. 50 Sek. verkürzt. Eine bedenkliche Entwicklung? Oder eher eine Chance für Komponisten, mehr Titel in kürzerer Zeit herauszubringen?

Ich bin gerne für Veränderungen im System und die Welt ist nun mal schneller geworden, in jeder Hinsicht. Songs kommen heute schneller auf dem Punkt, nur der Hook zählt. Und natürlich gibt es durch die digitale Vermarktung wesentlich mehr Releases. Ein Single Release kann man heute schon für €29,- weltweit realisieren. Allerdings haben die meisten Titel und Songs keine Chance auf Erfolg, ohne jegliche Konzepte und Social Media Kampagnen werden die Titel rausgeschossen und dümpeln mit ein paar Streams in den Streaming-Kanälen. Das interessiert mich gar nicht. Entweder sind meine Alben erfolgreich oder ich würde es nicht weiterverfolgen, deshalb: viel Social Media Arbeit.

Welche Auswirkungen haben die oben angesprochenen Entwicklungen des Musikmarkts auf die Filmindustrie? Sehen Sie Parallelen?

Der Filmmarkt ist weltweit recht stabil und unterliegt den normalen Schwankungen. Natürlich ist auch hier das Angebot derzeit inflationär, Streamingdienste wie Netflix und Co. schießen einen Film oder Serie täglich auf den Markt. Und man sieht derzeit, dass man in der Vermarktungskette an die Limits kommt, Abonnentenzahlen gehen bereits rückwärts. Wir werden jedenfalls auch wieder einen Rückgang erleben, ein Auf und Ab. Es bleiben immer die Sieger mit neuen Ideen, Konzepten und mit neuem Look und Sound.

Das Nutzerverhalten der Medienkonsumenten hat sich durch Social media und den sprunghaften Anstieg von Streaming-Dienstleistern dramatisch verändert (Konsumation von kleinen Häppchen; das Publikum ist sprunghafter geworden; aus der Verkaufspsychologie ist bekannt, dass ein Überangebot den Konsumenten nach seiner Kaufentscheidung unzufriedener zurücklässt, da er/sie eher das Gefühl haben kann, etwas anderes verpasst zu haben). Sehen Sie eine Tendenz, dass Filmproduzenten und Regisseure in ihren Forderungen gegenüber Ihnen als Filmkomponist flatterhafter und unberechenbarer werden?

Nein, das sehe ich nicht, Filmproduzenten und Regisseure waren schon immer kritisch dem Score gegenüber und das ist auch gut so, nur so kann sich im besten Fall ein gutes Musikkonzept entwickeln. Aber traditionelle Filmmusik im Orchesterstil wird natürlich weniger, weil der Sound über die Jahrzehnte auch redundanter geworden ist. Der neue Sound ist schon seit über 10 Jahren der elektronische Score, siehe Soundtracks wie Dune oder Interstellar. Was sich geändert hat sind die sequenzartigen, gelayerten Soundkonzepte. Kompositionen verweilen nur noch auf einem Ton und einer Tonalität und es wird um den Ton herumgebaut. Eigentlich das Konzept des Tekkno, ein Beat, der sich fortsetzt und konstruktiv weiter aufbaut. Deshalb sind Pop- und Filmmusik nicht mehr so einander von entfernt. Mir gefällt grundsätzlich diese Entwicklung, dass Musik auch wie ein Soundkonzept funktionieren kann. Es löst eine andere Art von Emotionen aus und Filmmusik wirkt wesentlich moderner und zeitgemäßer für die neuen Generationen von Zuhörern*innen.

Bei Netflix-Serien kommt es nicht selten vor, dass nur noch ein Music Supervisor die Musik zusammenstellt, welche von einem anonymen Team von Komponisten*innen in Einzelteilen produziert bzw. geliefert wird. Ist das Kuratieren von großen abendfüllenden Spielfilmen, deren Musik von einem einzigen Filmkomponisten*innen konzipiert, komponiert und aufgenommen wird, ein künstlerisches Auslaufmodell?

Bei den Streamern entscheiden die Showrunner, also die Autoren, ein Regisseur wird hier nicht mehr involviert. Mehrere Komponisten*innen und Songwriter werden zu einem Projekt verpflichtet, man möchte möglichst den zeitgemäßen Sound abdecken. Somit ist der alleinige Komponist*innen hier seltener gefragt.

Musikstudio von Marcel Barsotti

Untergräbt das digitale Überangebot die Nachfrage nach traditionellen Filmkomponisten, die einen Film von A-Z betreuen?

Nein, sowohl im Kino als auch im Fernsehen sind es meistens nur ein Komponist*in. Allerdings haben Songs immer schon Personen aus der Popindustrie geschrieben, das ist gängig. Wenn man im Kino und TV schaut hat sich hier eigentlich nichts geändert, man komponiert weiterhin von A bis Z. Bei Serien und Dailies allerdings gibt es aufgrund der Masse von zu vertonenden Filmen auch mehrere Komponist*innen im Musikteam.

Grosse digitale Filmmusik-Bibliotheken wie PremiumBeat haben das Filmmusikgeschäft in den letzten Jahren stark aufgemischt. Fluch oder Segen für den Filmkomponisten? Warum?

Nun, Production Music Libraries und leider auch urheberfreie Musik gab es schon immer. Das ist natürlich mehr geworden und erfolgreiche Projekte wie die koreanische Serie „Squid Games“ sind mit Library Musik konzipiert. Diese Entwicklung öffnet aber auch anderen Komponisten*innen die Möglichkeit Geld zu verdienen. Katalogmusik gab es schon immer schon und sie ist exorbitant wichtig, gerade im Doku-, Sport-, Reisen- und Nachrichtenformat, Mich hatte das auch schon immer interessiert, deshalb habe ich auch die Firma Tunesformovies gegründet, die mittlerweile über 50 TV Stationen in Deutschland, Österreich und in der Schweiz mit über 3.000 Titeln bemustert.

Sie sind auch Dozent für Filmmusik und bieten Coaching für junge Filmkomponist/innen an. Welches ist der wichtigste Tipp, den Sie hoffnungsvollen Jungtalenten mit auf den Weg geben?

„Fortbilden, Fortbilden und nochmals Fortbilden“. Im Grunde verweilen junge Komponisten*innen oft auf die Chance einfach entdeckt zu werden, aber das passiert in der Regel nicht. Deshalb biete ich die FiMuCo Coachings an, wie man professionell ein musikalisches Konzept entwickelt, wie man sich von anderen Komponist*innen abheben kann, wie man Social Media und Akquise in den heutigen Zeiten betreiben soll. Leider stelle ich fest, dass viele davon überhaupt keine Ahnung haben, ein paar Posts machen und in den Tag hineinleben auf die Chance, da ruft vielleicht jemand mal an. Mittlerweile habe ich außer Filmkomponist*innen sogar Regisseur*innen, Musiker*innen und Personen aus anderen Musikbranchen im Coaching und sogar erfolgreiche Filmkomponisten*innen, die noch erfolgreicher werden wollen. Der Bedarf scheint riesengroß zu sein, keiner überlebt heute mehr mit der persönlichen Note und mit „nur“ großem Talent.

Wie war ihr Werdegang, wie verlief ihre Karriere? Wenn man anschaut, was sie alles bis heute gemacht haben: TV Filme, Serien, Kino, eine der größten Sound Libraries wie ETHNO WORLD weltweit auf dem Markt gebracht, eine Production Music Company geründet und ein erfolgreiches Soundtrack Label, zusätzlich Coachings und Workshops, die sie geben. Wie geht das alles zusammen, haben Sie da noch den Überblick?

Ich denke ja (lacht). Alles voran habe ich ein persönliches Zeitmanagement entwickelt, also wie teile ich den Tag auf, sich auf das Wesentliche konzentrieren und mit Ruhe und Bedacht alles realisieren. Natürlich geht das nicht immer, irgendetwas kommt immer dazwischen. Aber deshalb habe ich auch in meinen Coachings das Modul PILLAR4+. Also, was passiert, wenn man nur eine Finanzsäule als Künstler*in im Leben hat, man setzt alles auf eine Karte. Diese Säule kann natürlich erfolgreich sein, aber was passiert, wenn man in die Jahre kommt und man vielleicht nicht mehr so gefragt ist oder andere Talente nachrücken? Hier setzt PILLAR4+ ein, also 4 Säulen des Verdienstes MINDESTENS! So entstand die Vielfalt meiner musikalischen Interessen.

Zurück aber erst zur Grundfrage: aller Anfang ist schwer. Ich habe mich mit Unterricht durchgeboxt, währenddessen ein klassisches- und Popstudium absolviert und dann nichts mehr anderes gemacht als täglich von morgens bis abends Akquise zu betreiben. Damals nannte man das „Hausieren“. Es gab noch kein Internet und E-Mail. Also Personen aus der Branche treffen, auf Parties und Festivals tanzen, Reisen und jedem erklären, überzeugen und zeigen, ich kann mehr als die Anderen. Selbstbewusstsein tanken, weil man mehr Absagen als Zusagen bekommt und dann, was man immer sehen muss: zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein. Und den gibt es in der Regel IMMER. Bei mir war das eine Filmpremiere, wo ich den Regisseur Sönke Wortmann kennengelernt habe, wir darauf in 6 Jahren vier große Kinofilme realisierten, darunter der Kino Blockbuster „Die Päpstin“ oder „Das Wunder von Bern“. Alles andere ist Geschichte. Und irgendjemand entdeckt dich und bringt dich zum Erfolg. Mein damaliger Manager sagte mir: „nicht der erste Film ist der Wichtige, sondern der Folgeauftrag“. Hiermit hatte er recht doch paradox. Wenn du den Zeitpunkt verschläfst dann geht dein möglicher Erfolg in die Jahre und eh es zu spät ist, holen dich andere Komponist*innen ein. Natürlich muss man immer sagen: die Musik ist entscheidend, was du schreibst. Produzenten*innen und Regisseur*innen buchen dich nicht zum Zeitvertreib, sondern weil sie DICH und für dieses Projekt niemand anders wollen.

Mein erster Kompositionslehrer, der gute alte George Byrd (USA) sagte mir einmal: „weißt du, das wichtigste im Leben ist nicht Geld zu verdienen, sondern Preise zu gewinnen, Preise und nochmals Preise.“ Ich habe diesen Gedanken immer im Hinterkopf gehabt, ein Leben lang. Wenn du Preise gewinnen möchtest, dann musst du was schreiben, was andere nicht schreiben, ein Konzept entwickeln, dass man für diesen Film nicht erwartet und dennoch funktioniert, dein persönlicher Stil, unkonventionell, schräg, halt ANDERS.

Muss ein guter Filmkomponist heutzutage vor allem auch ein guter Geschäftsmann sein? Welche Anforderungen sind nebst dem eigentlichen Kompositions-Talent Ihrer Ansicht nach ausschlaggebend, um im heutigen Filmmusikgeschäft zu bestehen?

Leider ist das in der Regel so. Talent ist zwar die Grundvoraussetzung, aber es gibt so großartige Writers, die einfach kein Geld mit Ihrer Musik verdienen und mit Unterricht oder anderen Jobs sich und Ihre Familie ernähren müssen. Ich gehe davon aus, das sind nahezu 90%! Geschäftsmann, Geschäftsfrau zu sein ist heute ein wesentlicher Bestandteil und die meisten Talente machen dazu weder eine Ausbildung noch Fortbildung. Man glaubt einen Hit geschrieben zu haben und das war es. Man kann mit weniger Talent und besserer Vermarktung erfolgreicher sein, obwohl ich immer für die besondere Qualität einer jeden Komposition bin. Heute sind zu viele Talente weltweit in einem Pool, die Luft wird deutlich dünner. Meine Zeiten waren noch die Golden Age, es gab lange nicht so viele Komponisten*innen wie heute, und man schrieb Millionen Kinobesucherzahlen für seine Projekte, Millionen von verkauften VHS, DVDs und Soundtracks. Das war eine andere Zeit, was nicht heißt heute genauso erfolgreich sein zu können.

Das Glück obliegt jedem selbst, etwas zu tun, etwas RICHTIGES zu tun vor allem etwas zu ändern.

Haben Sie noch eine kleine Anekdote, die Sie unseren Lesern aus Ihrem Filmmusikleben mitteilen möchten?

Oh das gibt es so einige skurrile davon (lacht)!

Also ich mein ca. zwanzigstes Vorstellungsgespräch bei einer Filmproduzentin für mein erstes Projekt hatte (ich war damals 29 Jahre alt) sagte mir die Produzentin: „ja wenn Sie noch keinen Film gemacht haben, kann ich Ihnen auch keinen Film geben“. Diese Aussage ist nicht ungewöhnlich in der Branche und doch völlig absurd. Also sagte ich ihr mit leicht emotionalem Ton: „Also ich schreibe Ihnen die nächste Filmmusik in 14 Tagen, genauso so gut wie ein Hans Zimmer und zu einem 100tel des Honorars“. Dann sah ich die Produzentin nicht wieder. Nach 9 Monaten kam tatsächlich dann ein Anruf der Produzentin: „sie haben doch damals so große Töne gespuckt, jetzt haben Sie die Chance dazu und wenn Sie diese versauen, dann war`s das mit uns“. Ich schrieb meine erste Filmmusik zu dem Film „Brüder auf Leben und Tod“ von Regisseur Friedemann Fromm und im gleichen Jahr gleich drei Folgefilme. That`s life!

Herr Barsotti, vielen Dank für das Gespräch.